Herbsttage | Charlotte Kegler

HERBSTTAGE  
Ich liebe den Wechsel der Jahreszeiten: Den Aufbruch der Natur im Frühling, der uns neuen Schwung gibt, nach einem ewig scheinenden Winter. Den Sommer, mit der Lässigkeit, die die warmen Tage und Nächte bringen. Und den Herbst, meine Lieblingszeit: Da gibt es warme, sonnige Stunden, die uns Sommer vorgaukeln und nach draußen locken. Und erste kalte Winde, die uns unmissverständlich klarmachen, dass wir Abschied nehmen müssen. Melancholisch können wir zum ersten Mal auf das Jahr zurückblicken und uns für den Rest des Jahres rüsten.

Wer einen Garten hat, weiß was ich meine: Die Ernte steht an und erste Arbeiten, die den Garten auf den Winter und das kommende Jahr vorbereitet. Stauden, die das Jahr überstanden haben, werden geteilt und an neuen Standorten gesetzt. Blumensamen und -zwiebeln kommen jetzt in die Erde, damit wir uns im nächsten Jahr an der Blumenpracht erfreuen können.

Eine gute Regel, die auch für uns, unser Leben gelten kann.
Ich schaue zurück auf das Jahr: Was ist mir gut gelungen, was nicht? Welche Erfahrungen habe ich gemacht, welches Wissen habe ich erwerben können?
Und ich schaue Voraus: Was will ich behalten oder vermehren? Worin möchte ich investieren?
Das gilt für Freundschaften, genauso wie für Bildung und Alterssicherung.

Denn jetzt, im (Lebens-)Herbst, kann ich die Weichen noch stellen, mein Leben noch ändern. Wer nie zurückblickt und nie vorausplant verpasst diese Chance.
Auch Rilke macht uns in seinem Gedicht „Herbsttag“, gebetgleich auf die Vergänglichkeit des Lebens aufmerksam und mahnt uns die Zeit gut zu nutzen und rechtzeitig für uns zu sorgen.

 

Charlotte Kegler
Pastorale Mitarbeiterin

 

Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin, und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

 

Rainer Maria Rilke (September 1902, Paris)