Sternenkindern – Allen Fehlgeburten einen Platz im Leben geben
In den Entbindungskliniken gibt es Bilderwände von glücklichen, strahlenden Eltern mit ihren Kindern. Täglich erscheint bei uns im Haus die Tafel, wer mit welchen Maßen geboren wurde.
Wo ist der Ort, wenn das Glück sich nicht einstellt, sondern vielmehr der Schrecken, die Trauer? „Wo kann ich hin, wenn ich mein Kind vermisse?“
Ich möchte Sie heute mit hinein nehmen auf die andere Seite des glücklichen Elternwerdens – und mit Ihnen der Frage nachgehen: Welchen Umgang und welche Trauer braucht es innerhalb einer Gesellschaft für Kinder, die nicht lebendig geboren wurden und deren Eltern?
DER MEDIZINISCHE KONTEXT
Zunächst sollen ein paar Fakten helfen, sich selbst ein Bild zu machen:
In Deutschland endet etwa jede dritte bis vierte Schwangerschaft in einer Fehlgeburt. Dabei merken einige Frauen nicht einmal, dass sie eine Fehlgeburt haben. „Klinisch“ werden deshalb gar nicht alle Fehlgeburten erfasst. Auch die „klinische“ Sprache ist eher kühl und sachlich: Von einem Frühabort spricht man bis zur 12. Schwangerschaftswoche (SSW). Der Spätabort gilt ab der 12. SSW. Der medizinische Begriff Totgeburt* trifft Kinder ab einem Gewicht von 500g oder ab der 20.-24.SSW (* was die verschiedenen Bundesländer unterschiedlich handhaben: Die Definition Totgeburt gilt ab 500g, jedoch unterscheiden sich je nach Bundesland die Gesetze zur Bestattungspflicht. In Schleswig-Holstein ist ein Kind ab 500g bestattungspflichtig, in Hamburg ab 1000g.)
Diese Definitionen haben Folgen:
Ein totgeborenes Kind, also ein Kind ab 500g, wird im Geburtenbuch aufgeführt, hat demnach Eltern, einen Namen und ist „bestattungspflichtig“ oder freundlicher ausgedrückt: Es bekommt ein Begräbnis, für das die Eltern aufkommen.
Ein Kind unter 500g gilt seit 2013 als sogenanntes „Sternenkind“. Als Sternenkind KÖNNEN die Eltern es beim Standesamt im Personenstandsregister eintragen lassen. Viele Kliniken bestatten diese Kinder zwei bis drei Mal im Jahr als „Sammelbestattung“.
AUS DEM BLICK DER SEELSORGE
Ich bin Krankenhausseelsorgerin im St. Adolf- Stift in Reinbek, ein katholisches Haus. Auch mit den Erfahrungen meiner Kollegin, Tina Maria Reisiger aus dem Agaplesion Bethesda Krankenhaus in Bergedorf, ein evangelisches Haus, können wir erzählen:
Eltern, die mit einer Fehlgeburt in unsere Häuser kommen, wird ein Gespräch mit der Seelsorge angeboten. Viele lehnen dies ab, mitunter weil sie das was geschieht, gar nicht als Verlust eines Kindes begreifen wollen oder können. Andere hingegen suchen einen Anker und einen Gesprächspartner, der nicht mit in ihrer Trauer versinkt und dennoch die Traurigkeit auszuhalten wagt. Auch Hebammen, Ärzte und Pflegende sind betroffen und mitfühlend – und machen einen professionellen und einfühlsamen Dienst.
Oft wird in anderen Seelsorgegesprächen deutlich, dass die Krankenhausauswahl davon abhängt, wie ein Krankenhaus mit eigenen Fehlgeburten umgegangen ist oder wie die Angst vor Krankenhäusern steigt, weil man diese Erfahrung mit niemandem teilen wollte und nun wird man durch einen zweiten Aufenthalt wieder drauf gestoßen.
Die Frage nach dem „Warum“ lässt sich nicht unterdrücken. Gerade bei glaubenden Menschen ist der Zwiespalt da, zwischen Gott anklagen (warum hat er unser Kind nicht beschützt? Warum dürfen wir keine Eltern sein?) und bei Gott Trost suchen (unser Kind ist im Himmel, bei Gott aufgehoben). Dies ist ein echter Glaubenskonflikt. Die Frage nach dem Warum können wir nicht beantworten. Auch wir können nicht anders als immer wieder mit Gott zu hadern, wenn wir das Leid und die Verzweiflung sehen. Auch der Sarg bei der Beisetzung – er ist einfach zu klein. Gleichzeitig ist Gott der Einzige, der trösten kann – wie ist Er da?
AUF DEM WEG ZUR TRAUER
Die meisten Eltern bereiten sich auf eine Schwangerschaft vor, informieren sich, können die Freude und auch die Sorge kaum fassen. Und dann kommt es wie ein Schlag ins Gesicht, dass das Kind im Bauch gar nicht mehr lebt oder lebensfähig ist. Der medizinische Eingriff im Krankenhaus wird nicht selten „unter Schock“ oder „wie im Film“ wahrgenommen. So schnell kann weder die Seele noch der Kopf begreifen, was da geschehen ist.
Eine emotionale Not ist mit Händen greifbar: Wohin mit der Trauer, von der man sich gar nicht zu erzählen wagt?
Wohin mit all den Gefühlen, von Schuld, Scham, Verzweiflung, Angst, Sorge und Ungewissheit?
Wie weiter mit dem Partner/ der Partnerin umgehen, die vielleicht ganz anders mit diesen Gefühlen umgeht?
Wohin bloß mit der Sehnsucht, dieses Kind wachsen zu sehen, trösten zu wollen, in den Arm wiegend zu halten? Wohin mit der Sehnsucht, diesem Kind in die Augen schauen zu wollen, das Lächeln zu sehen, das Leben mit ihnen zu teilen?
Wohin mit der Leere und der Einsamkeit, die einen dabei umfangen kann?
UNSERE HALTUNG – EINE GLAUBENSFRAGE?
All diese Fragen begegnen uns als Seelsorgende – und wir sind nur ein winzig kleines Stück Wegbegleitende. Nach dem Krankenhausaufenthalt gehen diese Eltern wieder in ihren Alltag zurück – sich fragend, wie sie diesen meistern sollen… Und da treffen sie auf Menschen wie Sie. Sie, die Sie vielleicht ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Sie, die Sie vielleicht noch nie mit diesem Thema in Berührung gekommen sind. Sie sind es dann, auf dessen Haltung es ankommt.
Und mir scheint, mit einer christlichen Grundhaltung haben wir da einiges zu bieten: Eltern sind Eltern, von der Zeugung eines Kindes und auch über dessen Tod hinaus. (Wie unangebracht und verletzend die Definition „Zellklumpen“ ist, wird einem spätestens hier deutlich.)
Eine Schwangerschaft steckt einer Frau immer in den Knochen – egal, ob sie nach außen sichtbar Mutter geworden ist oder nicht. Auch ein Sternenkind macht eine Frau zur Mutter. Auch ein Sternenkind macht einen Mann zum Vater.
Wie können wir Betroffenen gegenüber treten? Wie mit aushalten, worauf es keine klare Antwort gibt? Es ist immer möglich: Einfach zu fragen, wie es den Eltern geht, was sie jetzt möchten oder brauchen. Vermeintlich Tröstendes zu sagen kann oft sehr verletzen, totschweigen ist aber genauso verletzend.
DIE BESTATTUNG, EINE ABSCHIEDSFEIER
Einige Krankenhäuser laden nach einiger Zeit (auf Wunsch) die Eltern zur Bestattung der Sternenkinder ein. Dazu können auch Geschwister, Großeltern und Freunde kommen. Weil es den christlichen Krankenhäusern ein Anliegen ist, die Sternenkinder zu bestatten, finanzieren die Häuser meist selbst diese Grabfelder.
Diese Beerdigungen haben ein christliches Fundament, werden aber möglichst offen gestaltet – was den vielen nicht-religiösen als auch nicht-christlichen Eltern entgegen kommen soll.
Es ist die Möglichkeit, sich mit dem Kind ein letztes Mal auf den Weg zu machen. Es zu Grabe zu betten und Abschied zu nehmen.
Auf dem Reinbeker Friedhof gibt es innerhalb der Sternenkinder-Begräbnisstätte für jede Bestattung einen eigenen Stein mit einem eingravierten Symbol darauf. Somit können Eltern einen konkreten Ort ausfindig machen. Das Grabfeld der Sternenkinder suchen Eltern auch später immer wieder auf, um ihren Kindern nahe zu sein. Beeindruckend sind die vielen Zeichen der Liebe der Eltern: Frische Blumen, brennende Kerzen, kleine Spielsachen, Windräder, liebevoll Selbstgebasteltes mit dem Namen der Kinder.
In manchen Krankenhäusern gibt es sogar innerhalb des Krankenhauses einen Ort, dass das Gedenken ihrer Sternenkinder wach hält bzw. Eltern auch einen Ort im Krankenhaus anbietet, zu dem sie kommen können.
WAS BLEIBT?
In all den Begleitungen der Eltern der Sternenkinder wurde mir deutlich: Es braucht eine Sprachfähigkeit und großen Mut, von dieser Erfahrung anderen Menschen zu erzählen, denn es ist eine sehr einsame Erfahrung. Man ist an diesem Punkt, ich behaupte ein Leben lang, sehr verletzlich. Es zeugt von einem großen Vertrauen, wenn sich jemand damit offenbart.
Nur, wer darüber spricht, kann merken, dass man nicht allein ist und dass es befreiend sein kann, davon erzählen zu können.
Diese Erfahrung wünsche ich allen: Getragen zu sein, sich verbunden zu wissen und ein tiefes Vertrauen zu finden, dass es ihren Kindern gut geht, weil sie gut bei Gott aufgehoben sind.
Annemarie Nyqvist
Krankenhausseelsorgerin im St. Adolf-Stift Reinbek
In Zusammenarbeit mit Tina Maria Reisiger, Krankenhausseelsorgerin im Agaplesion Bethesda Krankenhaus in Bergedorf